Nun ist die Katze also aus dem Sack. Das Bundesamt für Verkehr (BAV) hat am Spätnachmittag des 25. Januar die Bewilligung für den Neubau der Kabinenbahn von Oberdorf zum Weissenstein erteilt. Mit diesem Entscheid endet der gut zwei Jahre dauernde Streit um den Erhalt der nostalgischen Sesselbahn. Gleichzeitig findet aber mit der Bewilligung des Neubaus auch die Ära der Seitwärtssesselbahnen Typ VR101 in der Schweiz, dem Erfinderland dieses nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen, revolutionären Sesselbahnsystems, ihr Ende. Auch wenn mit diesem Ausgang zu rechnen war, so gab es bislang doch zumindest noch einen Funken Hoffnung, dieses kulturelle Denkmal von internationaler Bedeutung doch noch erhalten zu können. Nun ist aber auch dieser erloschen. Zwar besteht die Möglichkeit und seitens des Schweizer Heimatschutzes (SHS) und des Vereins zum Erhalt der nostalgischen Sesselbahn ProSesseli auch das Bestreben, die Bewilligung vor dem Bundesgericht anzufechten, ob dieses Vorhaben jedoch Erfolg haben wird, darf bezweifelt werden.
Der Streit um den Erhalt der Sesselbahn Weissenstein hat in der Schweiz polarisiert wie kein vergleichbarer Fall je zuvor
Der Streit um den Erhalt der Sesselbahn Weissenstein hat in der Schweiz polarisiert wie kein vergleichbarer Fall je zuvor. Sorgte der Abbruch von technisch-historisch interessanten Seilbahnen bis dato eher ein in Nostalgikerkreisen für Beklommenheit, so kam durch den Weissenstein erstmals auch in der breiten Bevölkerung ein Bewusstsein für diese Art von Industriedenkmälern auf. In anderen Sparten des Transportwesens wie beispielsweise der Schifffahrt oder bei dampfbetriebenen Lokomotiven kämpften Liebhaber schon seit einigen Jahrzehnten erfolgreich für den Erhalt ausgewählter Fahrzeuge und Strecken. Der Grund dafür, dass eine derartige Bewegung bei Seilbahnen erst spät aufgekommen ist, dürfte in der Tatsache liegen, dass technische Feinheiten und Raffinessen für den normalen Fahrgast oftmals nicht erkennbar sind. Am Weissenstein hingegen konnte auch ein seilbahntechnischer Laie auf den ersten Blick erkennen, dass es sich hierbei um etwas Besonderes handelte.
Bereits einige Zeit vor der Stilllegung der Anlage im November 2009 wurden Stimmen zum Erhalt der Bahn laut. Die Betreibergesellschaft, die Seilbahn Weissenstein AG (SWAG), pochte jedoch von Beginn an auf einen Rückbau der bestehenden Infrastruktur und auf den Ersatz durch eine Seilbahn mit geschlossenen Kabinen ab Stange. Miteinhergehen sollten nach den ersten Planungen der Ausbau des Weissensteins zu einem Naherholungsgebiet mit zahlreichen neuen Attraktivitäten, wie beispielsweise der Ausbau einer Velo-Downhillstrecke, einer Sommerrodelbahn sowie eines Vergnügungsparks. Einen Verkauf der Anlage schloss die Gesellschaft kategorisch aus.
Einer der schwärzesten Tage der Schweizer Seilbahngeschichte
Der Entscheid des BAV für den Neubau und gegen den Erhalt der bestehenden Seilbahn ist nicht nur für die Freunde des nostalgischen „Sesselis“ ein schwarzer Tag, sondern wohl auch einer der schwärzesten Tage der Schweizer Seilbahngeschichte. Das System der kuppelbaren Sesselbahn, bei dem die Fahrgäste auf komfortabelste Weise die vom Seil getrennten Sessel in den Stationen besteigen und verlassen können und dennoch mit adäquater Fahrgeschwindigkeit den Gipfel erreichen können, ist heute aus keinem Skigebiet der Welt mehr wegzudenken. Höchste Förderleistungen können mit ihm erreicht werden, Millionen von Skifahrern weltweit wissen den komfortablen Transport mit diesem Transportmittel zu schätzen.
Seinen Ursprung fand es 1945 im Bündner Skiort Flims, als die erste kuppelbare Sesselbahn zum Weiler Foppa das Licht der Welt erblickte. Wenig erstaunlich erfreute sich die Sesselbahn des Typs VR101 grösster Beliebtheit. Die Erfinderfirma, das Schweizer Traditionsunternehmen der Ludwig Von Rollschen Eisenwerke, konnte in den folgenden Jahren nicht nur in der Schweiz eine Vielzahl an Anlagen dieses Typs erstellen, sondern auch im Ausland zahlreiche dieser zweiplätzigen Sesselbahnen mit ihrer markanten Bauweise entweder selbst oder durch andere Unternehmen in Lizenz verbreiten. In den USA entstanden derartige Anlagen vor allem als Transportmittel in Vergnügungsparks.
Das System VR101 – Der Urvater der kuppelbaren Sesselbahn
Technische und logistische Weiterentwicklung der Seilbahnen sorgten schliesslich dafür, dass das System der VR101 ab Mitte der 60er Jahre nicht mehr zum Einsatz kam. Dennoch bildete es die Basis für sämtliche derartige Systeme, die Hersteller aus aller Welt für ihre kuppelbaren Sessel- und Kabinenbahnen einsetzten. Folglich ist es keinesfalls übertrieben, die Seitwärtsesselbahn Typ VR101 als den Urvater der modernen und heute auf dem ganzen Globus äusserst geschätzte Sesselbahn anzusehen.
Umso tragischer und vor diesem Hintergrund völlig unverständlich ist daher die Tatsache, dass es offensichtlich nicht möglich ist, wenigstens eines dieser Industriedenkmäler mit nationaler wie internationaler Bedeutung im Erfinderland erhalten zu können. Die beiden letzten Anlagen des Systems VR101 drehen ihre Runden im tschechischen Krupka sowie im süddeutschen Königssee. Die Bahnen wurden in Lizenz durch die Firmen Transporta respektive ABIG hergestellt. Letztgenannte wird im Normalbetrieb allerdings mit geschlossenen Kabinen betrieben, in denen die Fahrgäste aber dennoch quer zur Fahrtrichtung sitzen und so in vollen Zügen das Panorama während der Fahrt geniessen können.
Standardbahn gegen einmaliges Nostalgieerlebnis am Weissenstein
Stichhaltige Argumente für den Neubau sind rar. Zentrale Vorteile der neuen Bahn sollen ein wettergeschützter Transport der Fahrgäste und ein besserer Transport für Invalide sein. Inwiefern nun bei Sturm, Regen oder Schneefall die Gäste wegen der geschlossenen Kabinen in Scharen zum Wandern oder zum Schlitteln anreisen werden, was kaum in ebenso geschützten Räumen stattfindet, bleibt Geheimnis der Befürworter. Ebenso wenig ist nachvollziehbar, warum plötzlich ein verbesserter Transport für Invalide unumgänglich ist. Schliesslich führt auf den Weissenstein auch eine Strasse, über die man auch einen Transport für Fahrgäste einrichten könnte, die nicht in der Lage sind, mit der Sesselbahn zu fahren.
Clevererweise will man im Falle eines Neubaus ebendiese Strasse aber mit einem Fahrverbot belegen. Wohl auch, um die grössere Förderleistung der Kabinenbahn zu rechtfertigen. Offenbar, und das scheinen inzwischen sogar die Betreiber begriffen zu haben, kommt ein Grossteil der Gäste eben wegen des Fahrterlebnisses an den Weissenstein. Dies machte sich vor allem in den Sommermonaten bemerkbar, als der Postautobetrieb, der als Ersatz für die stillgelegte Sesselbahn eingerichtet wurde, nur einen Bruchteil an Fahrgästen verglichen mit der Seilbahn verzeichnen konnte. Selbstverständlich dürfte auch eine Kabinenbahn in der Beliebtheitsskala für den Bergtransport deutlich über dem Postauto liegen. Doch dass nun wegen der Standardbahn mehr Leute den Berg aufsuchen als wegen des einmaligen Nostalgieerlebnisses, daran kann wohl niemand ernsthaft glauben.
Bereits heute trifft man gefühlt an jedem zweiten Berg dasselbe Angebot an
Dem sind sich die Betreiber ebenfalls bewusst. Wollen sie doch zur Auslastung der höheren Förderleistung, die eine neue Bahn mit sich bringt, weitere Attraktionen wie die eingangs erwähnte Sommerrodelbahn und den Freizeitpark anbieten, um den Neubau amortisieren und die grössere Förderleistung rechtfertigen zu können. Naturschützer sehen in diesen Ausführungen wie so oft eine massgebliche Beeinträchtigung des Naturraums Weissenstein-Jura. Weitaus fraglicher erscheint jedoch, ob die x. Sommerrodelbahn und der Freizeitpark noch irgendjemand vom Hocker reissen. Vor rund einem Jahrzehnt wurde diese neue Art der Infrastruktur in den Schweizer Bergen massentauglich. Heute trifft man gefühlt an jedem zweiten Berg dasselbe Angebot an.
Genau an dieser Stelle macht man jedoch einen fatalen Fehler, wenn man sich der stetigen Banalisierung der Bergwelt fügt. Bereits die 90er Jahre zeigten, dass nach den Boomjahren des Skisports in den 70er und 80er Jahren ein Überangebot an Skigebieten vorlag, welches in der Folge zum Sterben zahlreicher kleinerer und mittelgrosser Skiorte führte. Man darf sich nun ausmalen, wie die Sache in wenigen Jahren aussieht, wenn auch der letzte Berg mit einer Sommerrodelbahn oder einem Downhillparcours zugepflastert ist. Ob dann der Weissenstein zu den Glücklichen gehört, zu denen die Gäste weiterhin kommen, ist ungewiss. Sicherheit hätte man mit der bestehenden Infrastruktur gehabt. Eine Nostalgiesesselbahn, die niemand auf die Schnelle an den Berg zaubern kann, hätte eine langfristige Chance für den Weissenstein bedeutet.
Dass plötzlich ein ganzes System von heute auf morgen nicht mehr sicher sein soll, ist absurd
Ein weiteres Argument gegen den Erhalt der Sesselbahn sehen Befürworter des Neubaus und das BAV in den Kosten, die für eine Sanierung der bestehenden Infrastruktur anfallen würden, da diese in keinem Verhältnis zum Nutzen stünden. Eine Sanierung wäre abgesehen vom Austausch von Verschleissteilen insofern notwendig gewesen, damit die strengeren Sicherheitsauflagen seitens des BAV hätten erfüllt werden können.
Unabhängig von der tatsächlichen Stichhaltigkeit dieser Bedenken liegt an dieser Stelle ein konzeptionelles Problem vor. Inwiefern ist es zu erklären, dass eine Sesselbahn, respektive ein ganzes System, welches seit knapp 70 Jahren auf der ganzen Welt tadellos und ohne nennenswerte Zwischenfälle seinen Dienst verrichtet, nicht mehr sicher sein soll? Natürlich sind ein Austausch von Verschleissteilen und eine regelmässige Überprüfung aller sicherheitsrelevanten Komponenten unumgänglich. Doch dass plötzlich ein ganzes System von heute auf morgen nicht mehr sicher sein soll, ist absurd.
Das Alleinstellungsmerkmal des Weissensteins wird verschwinden
Das sanfte Schaukeln im Sessel, der Fahrtwind, der einem in den Sommermonaten angenehm durch das Gesicht strich, das charakteristische Geräusch des Sessels bei der Rollenüberfahrt, die kultigen Decken für den wohligen Transport bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt. All das soll es nach dem Willen des Betreibers und einem Teil der Bevölkerung für eine handelsübliche Kabinenbahn geopfert werden, die man zu tausenden auf der ganzen Welt antrifft. Das Alleinstellungsmerkmal, das den Weissenstein von anderen, vergleichbaren Berggipfeln abhob, wird also für immer verschwinden. Und mit ihm zahlreiche Gäste, die nicht nur der Aussicht und des Weissensteins halber weite Anreisen in Kauf genommen haben, sondern auch und gerade der nostalgischen Bahn wegen.
Die Gültigkeit dieser These hätte man mit der Konstellation eines Parallelbetriebs von Kabinenbahn und Sesselbahn verifizieren können. Interessant wäre es gewesen zu beobachten, wie viele Fahrgäste letztendlich die nostalgische Sesselbahn und wie viele die banale Kabinenbahn genutzt hätten. Doch hierzu wird es aller Voraussicht nach bekanntlich leider nie kommen.
Die Einzigartigkeit einer Sache macht die Besonderheit aus
Wäre eine derartige Diskussion um den Erhalt genau dieser Seitwärtssesselbahn auch aufgekommen, wenn es noch einige weitere in der Schweiz geben würde? Würde sich noch jemand darüber mokieren, wenn die neue Anlage schon vor zehn Jahren gebaut worden wäre, als es noch zwei weitere Bahnen dieses Typs in der Schweiz gab? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Denn die Nostalgiebewegung keimte mit jeder abgebauten VR101 mehr auf. So wurden bereits bei den beiden zuvor abgebauten Anlagen in Braunwald und in Kandersteg viele Stimmen laut, die sich für den Erhalt der Bahnen aussprachen. Richtig ernst wurde es allerdings erst bei der allerletzten Chance am Weissenstein. Womit sich der Kreis wieder schliesst und man wieder an dem Punkt angelangt ist, dass die Einzigartigkeit einer Sache die Besonderheit ausmacht.
Sollte in 50 Jahren die letzte Sommerrodelbahn am Weissenstein stehen, hätten die Betreiber vielleicht alles richtig gemacht. Ob es soweit kommt, oder ob der Weissenstein in ein paar Jahrzehnten ohne Bahn dasteht, kann zum heutigen Zeitpunkt noch niemand sagen. Alles richtig gemacht hätte man dagegen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, wenn man für den Erhalt der jetzigen Infrastruktur plädiert hätte. Man stelle sich nur einmal vor, die Ägypter oder Griechen hätten ihre Baudenkmäler ohne wenn und aber durch moderne Konstruktionen ersetzt. Würden tatsächlich Menschen in Scharen zur Besichtigung dieser Bauten anreisen?
Leider ist bis heute in der Mehrheit der Bevölkerung und bei den entsprechenden Verantwortlichen ein derartiger Denkanstoss nicht erfolgt. Es ist eine Schande, dass kommende Generationen von einem solchen Industriedenkmal nur noch aus Erzählungen erfahren werden können. Einen kleinen Trost – zumindest für all jene, die eine Fahrt mit der Sesselbahn Weissenstein noch erleben durften – bleibt aber. Die vielen schönen Erinnerungen an die Fahrten mit der Seitwärtssesselbahn können einem durch keinen Neubau der Welt genommen werden.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.