Den vielleicht schönsten Ausblick auf den Thuner See und das weltbekannte Dreigestirn von Eiger, Mönch und Jungfrau geniesst man vom 1963 Meter hohen Niederhorn. Der in den Emmentaler Alpen gelegene Gipfel ist bekannt für sein beeindruckendes Panorama, das bei klarer Sicht bis weit ins Mittelland und hin zu den Bergen des Juras reicht. Kein Wunder, dass dieser malerische Aussichtsgipfel bereits 1946 auch durch eine der ersten Sesselbahnen der Schweiz erschlossen wird. Die VR101-Seitwärtssesselbahn des Herstellers Von Roll prägt das Bild am Niederhorn während fünf Jahrzehnten, weicht 1996 dann aber einem Neubau. Doch auch die neue Niederhornbahn ist ein echtes Seilbahn-Schmuckstück und Unikat.
Seilbahn-Schmuckstück und Unikat
Beim Neubau der Anlage liegt der Fokus vor allem auf einer besseren Anbindung an die bestehende Standseilbahn von der Beatenbucht am Thuner See nach Beatenberg. Diese Seilbahn ist Teil des öffentlichen Verkehrsnetzes und bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts ein wichtiger Zugang zur Ortschaft Beatenberg. Im Gegensatz zur Standseilbahn besitzt die Sesselbahn ihre Talstation seinerzeit jedoch einen guten Kilometer weiter östlich und damit deutlich näher am Zentrum des langgezogenen Strassendorfs. In der Zwischenstation Vorsass macht die Anlage eine Rechtskurve, um von dort auf direktem Weg das Niederhorn zu erreichen.
Die quer zum Hang verlaufende erste Teilstrecke ist jedoch nicht wirklich optimal gelegen, sodass man die Talstation der neuen Bahn 1996 direkt neben der Bergstation der bestehenden Standseilbahn platziert. Von hier aus steuert die Seilbahn den Niederhorn-Gipfel auf direktem Wege an. Man entscheidet sich jedoch nicht erneut zum Bau einer Sesselbahn. Geschlossene Kabinen scheinen als Zubringer zum Berggasthaus Niederhorn und bei schlechter Witterung die geeignetere Wahl. Da die Zwischenstation Vorsass für Wanderer und Skifahrer aber erhalten bleiben soll, wäre der Einsatz einer kuppelbaren Kabinenbahn äusserst kostspielig.
Eine Gruppenumlaufbahn für das Niederhorn
Eine fix geklemmte Anlage mit geringerer Fahrgeschwindigkeit wäre für die fast 2,5 Kilometer lange Strecke allerdings ebenfalls ungeeignet. So entscheidet man sich für einen Kompromiss, der in den 90er Jahren alpenweit sehr häufig Einsatz findet – eine Gruppenumlaufbahn. Dieses Prinzip erlaubt den Einsatz von mehreren Kleinkabinen, die in gleichmässigen Abständen zu einzelnen Gruppen zusammengefasst werden. Sobald eine Kabinengruppe in eine Station einfährt, wird die Fahrgeschwindigkeit reduziert, bis die Kabinen ganz zum Stillstand kommen. Befinden sich die Kabinen auf der freien Strecke, kann eine hohe Fahrgeschwindigkeit realisiert werden, obwohl die Kabinen fest mit dem Förderseil verbunden sind.
Das spart die Kosten für eine aufwendige Kuppeltechnik mit vom Förderseil lösbaren Klemmen, hält andererseits aber die Fahrzeit in einem erträglichen Rahmen. Im Falle der Niederhornbahn sind insgesamt vier Gruppen à drei Kabinen im Einsatz. Jede einzelne Kabine bietet maximal 17 Personen Platz. Die Zwischenstation Vorsass ist dabei genau in der Mitte der Strecke platziert. Wenn je eine Kabinengruppe in Tal- und Bergstation eintrifft, befinden sich die beiden anderen in der Zwischenstation. Auf diese Weise kann sichergestellt werden, dass nie eine Gruppe auf der Strecke warten muss, während die Anlage für den Ein- und Ausstieg in Tal- und Bergstation anhält. Die Fahrt zum Niederhorn verläuft daher in zwei Etappen mit einem kurzzeitigen Stillstand in der Station Vorsass.
Pioniere der Seilbahntechnik
Einer der Pioniere unter den Konstrukteuren von Gruppenumlaufbahnen ist zu Beginn der 90er Jahre der Seilbahnhersteller Matthias Streiff. Bereits seit den 60er Jahren ist das Unternehmen aus dem Kanton Glarus im Bau von Schleppliften, fix geklemmten Sesselbahnen und kleineren Pendelbahnen tätig, springt dann aber auf den Zug der Gruppenumlaufbahnen auf. Die ersten beiden solchen Anlagen kann Streiff 1990 in Braunwald eröffnen. Dort allerdings setzt der Hersteller auf ein einzelnes Förderseil. Entsprechend viele Stützen erfordert der Bau, da ein einzelnes Seil keine allzu langen Spannfelder erlaubt. Am Niederhorn entsteht dagegen eine Anlage mit zwei zusätzlichen Tragseilen je Fahrtrichtung. Auf diese Weise kommt die Seilbahn mit nur sechs Zwischenstützen aus. Alle sind in Fachwerkbauweise ausgeführt und prägen das Landschaftsbild am Niederhorn seit nunmehr über zwei Jahrzehnten.
Weil Streiff im Bau solch grosser Anlagen jedoch wenig Erfahrung besitzt, entsteht die Anlage am Niederhorn mit Unterstützung eines anderen bekannten Schweizer Seilbahnherstellers. Die Firma Von Roll kommt Anfang der 90er Jahre mit einem revolutionären Seilbahnsystem auf den Markt, das in Saas-Fee erstmalig einen Abnehmer findet. Der Alpinexpress ist eine Kreuzung von Pendelbahn und Kleinkabinenumlaufbahn und weist zwei Tragseile und ein umlaufendes Zugseil auf, an dem die Kabinen automatisch lösbar befestigt werden können. Dieses System wird wegen seiner drei Seile oft als 3S-Seilbahn bezeichnet und ist heute weit verbreitet. Viele Ideen und Elemente dieses Systems werden auch am Niederhorn eingesetzt. Der wesentliche Unterschied zum Original besteht aber darin, dass die Kabinen hier gerade nicht mit lösbaren Kuppelklemmen versehen sind, sondern stets fest mit dem Zugseil verbunden bleiben. Die Niederhornbahn kann damit als fix geklemmte 3S gelten.
Das Niederhorn als Erinnerung an einen Schweizer Seilbahnhersteller
Ein Kuriosum findet sich in der Bergstation, in der das Zugseil abgespannt wird. Zwischen der letzten Stütze und der Umlenkkonstruktion werden die Tragseile nach innen weggeführt, weshalb die Kabinen für ein kurzes Stück lediglich vom Zugseil gestützt werden. Dieser Abschnitt ist notwendig, weil sich die komplette Bergstation je nach Seilspannung verschiebt. Entsprechend kann diese Übergangszone in ihrer Länge leicht variieren.
Die Niederhornbahn ist damit ein echtes Seilbahn-Unikat und nicht nur wegen ihrer fabelhaften Aussicht definitiv einen Besuch wert. Für Streiff ist es übrigens seinerzeit bereits die letzte Gruppenumlaufbahn. Der Tod des Firmengründers kommt der Eröffnung zuvor, sodass das Glarner Unternehmen nur noch eine weitere Anlage erstellt. 1998 nimmt am Monte Lema im Tessin eine ganz ähnliche Bahn den Betrieb auf. Dort handelt es sich aber um eine Gruppenbahn mit Pendelbetrieb. Die Niederhornbahn ist damit auch eine Erinnerung an einen kleinen, aber innovationsträchtigen Schweizer Seilbahnhersteller.
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Felix ist Fotograf und Autor, spezialisiert auf Landschafts- und Reisefotografie und zu Hause im Saarland und der ganzen Welt. Wenn er nicht gerade in der Natur oder den Bergen unterwegs ist, schreibt er hier über seine Reisen, die Fotografie oder über sein liebstes Fortbewegungsmittel, die Seilbahn.